Auffälligkeiten Chance für die Familie

Warum können Auffälligkeiten eines Kindes eine Chance für die ganze Familie sein?

„Ich kann nie etwas für euch richtig machen!“ Das ist die Aussage eines 14-jährigen Mädchens, von der mir ihr Vater ganz nebenbei in einem Beratungsgespräch erzählte. Noch einige weitere Aussagen ließen mich hellhörig werden und ich verspürte den Impuls, dass möglicherweise die systemische Betrachtung der Familie ein Schlüssel hin zu einem Verstehen der aktuellen Situation und zu einer positiven Veränderung sein könnte.

Die systemische Betrachtung legt den Fokus auf die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Einzelteilen eines Systems sowie auf deren Gesamtzusammenhänge. In diesem Fall ist als System die Familie zu betrachten. Mir war es dabei wichtig, dass die Eltern neben der Symptomverringerung den Blick auf die Beziehungen zueinander und deren Dynamiken legen.

Die Eltern berichten, dass ihre Tochter schon für 6 Wochen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) war. Hier lag der Schwerpunkt auf der Verhaltensänderung. Das Mädchen hatte zuvor ca. ein Jahr lang in unregelmäßigen Abständen Angstattacken. Sie erlernte in der KJP präventive Maßnahmen, um eine Attacken zu vermeiden, sowie Strategien,  wie sie letztlich damit umgehen könnte. Dies ist oft eine wirkungsvolle Therapie, um die Not des Patienten zu lindern und um ihnen Handlungsstrategien zu geben, die ihn von seiner Ohnmacht und Aussichtslosigkeit befreien.
Für das Mädchen eine sicherlich wichtige Hilfe, die zur Bewältigung ihres Alltags beiträgt.

Der systemische Ansatz setzt hier grundlegender an und erklärt das Verhalten von Menschen nicht isoliert aus deren inneren Eigenschaften heraus, sondern aus ihren Beziehungen und Interaktionen untereinander und zu ihrer Systemumwelt.
(vgl: https://www.dgsf.org/service/was-heisst-systemisch/familienberatung-systemische-beratung)

Weiter geht der systemische Ansatz davon aus, dass Auffälligkeiten eines Menschen Ausdruck von Dysfunktionen des Systems sind und dass es lohnenswert ist, den Sinn der Verhaltensweise zu hinterfragen. Diese Person wird als „Symptomträger“ bezeichnet.
Bezogen auf die hier beschriebene Familie würde dies bedeuten, dass die Angstattacken des Mädchens Ausdruck von dysfunktionalen Beziehungen und Interaktionen innerhalb des Systems Familie sind.

Diese Erläuterung lasse ich zunächst bei den Eltern, ohne Erwartung an eine direkte Antwort, wirken. Im Anschluss gebe ich ihnen noch das Beispiel eines 10-jährigen Jungens, der an einer Magersucht litt. Zum einen lebte er seit Jahren mit ständigen Konflikten zwischen den Eltern und zum anderen hatten die Eltern immens hohe Erwartungen an ihren Sohn. Hieraus entwickelte er das Gefühl, dass ihn seine Eltern nur mit Bestnoten und Siegen im Sport liebten. Zudem stellte sich im Laufe des Beratungsprozesses heraus, dass die Magersucht letztlich das System zusammenhielt und die Trennung der Eltern verhinderte.

Die Eltern in meinem Beratungsgespräch reagierten gerührt und werfen sich einen verbindenden Blick zu. Die Mutter erklärte, dass auch zwischen ihnen schon lange Zeit nicht mehr alles in Ordnung ist und dass es viele Streitigkeiten gibt. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, dass dies im Zusammenhang mit den emotionalen Auffälligkeiten ihrer Tochter stehen könnte. Sie sind seit Monaten auf der Suche nach einer Begründung und fühlen sich schuldig.

Daraufhin betonte ich, dass es hierbei nicht darum geht, einen Schuldigen zu finden. Ziel ist es vielmehr, Dysfunktionen zu erkennen und aufzuheben, sodass sich der emotionale Zustand aller verbessert. Im Zentrum stehen dagegen die Ressourcen der ganzen Familie, insbesondere die Ressourcen des „Symptomträgers“.

Dabei liegt die Haltung zugrunde, dass die Familienmitglieder die Experten für ihr Leben sind. Die Lösung ist bereits in ihnen und kann nur von ihnen selbst gefunden und gegangen werden.

Die Eltern stehen einer systemischen Betrachtung ihrer Familie offen gegenüber.
Wichtig ist, dass sie begreifen und dass es ihnen bewusst ist, dass sie sich dann auch mit sich selbst beschäftigen müssen. Es wird notwendig sein, dass alle einen Veränderungsprozess gehen, der möglicherweise ungemütlich werden und absolut nicht einfach sein kann. Einfach ist es jedoch auch aktuell nicht. In einem gemeinsamen Veränderungsprozess liegt die Chance, dass sich der emotionale Zustand der Tochter verbessert und dass sie wieder mehr Lebensqualität spürt.

Meist beginnt eine systemische Betrachtung der Familie mit einem genaueren Blick auf die einzelnen Familienmitglieder und deren Beziehungen. Eine Aufstellung der Familie mithilfe von Stellvertretern, z.B. Figuren, Klötzen, Tieren usw., kann dabei unterstützend sein, das eigene System wahrzunehmen und die Beziehungen zueinander zu ergründen. Dies hat die Möglichkeit, die Dynamiken und auch die Geschichte der eigenen Familie weniger emotional, sondern konstruktiv zu betrachten. Für die Platzierung der Stellvertreter gibt es mehrere Vorgehensweisen. Die Positionen können von einer Person, z.B. des 14-jährigen Mädchens, bestimmt werden. Spannend ist hierbei, wie sie die Stellvertreter anordnet. Parallel findet ein Gespräch darüber statt, warum sie welche Position wählt und wie die einzelnen Systemmitglieder in Beziehung miteinander stehen. Möglich ist auch, dass z.B. die Mutter, der Vater und die Tochter individuell das System stellen. Die Platzierung und die persönlichen Empfindungen dessen werden im Anschluss ausgetauscht.

Die systemische Beratung hat ein breites Repertoire an Techniken, die den Klienten Impulse, Klarheit oder den Blick ins Innere ermöglichen. Die Aufstellung ist hieraus ein Beispiel.

Die Eltern erkundigen sich nach Beratungsstellen, die systemisch arbeiten. Es ist schön zu hören, dass sie Bereitschaft zeigen, sich näher mit diesem Ansatz zu beschäftigen. Es braucht Mut, sich selbst mit seinen eigenen Beziehungen und Interaktionen auseinander zu setzen. Es kann jedoch ein Schlüssel zu einem gelingenderen Miteinander sein und zu einem verbesserten Wohlbefinden aller beitragen. Verändern müssen sich dabei jedoch alle und nicht nur die Tochter.